13.06.2016

Die neuen Pharisäer: Wer legt heute der Evangelisierung Steine in den Weg?

„Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer” – James Tissot, 19. Jahrhundert

Internetnutzer sind mit „Godwins Gesetz“ vertraut. Formell gesehen, besagt dieses Gesetz, dass „je länger sich eine Diskussion hinzieht, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass ein Vergleich mit Hitler oder Nazis gezogen wird.” Egal, worüber gestritten wird, irgendwann wird jemand den Inbegriff des Bösen – den Nationalsozialismus – heranziehen, um damit seine Gegner zu verurteilen.

Wenn man nun die katholische Version dieses Gesetzes formulieren müsste, so würde sie lauten, „Je länger sich eine katholische Online-Diskussion hinzieht, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass ein Vergleich mit den Pharisäern gezogen wird.” Doch wird in der katholischen Welt dieser Vergleich unvermeidbar gegen diejenigen eingesetzt, die die traditionelle Kirchenlehre und -praxis verteidigen. Ist es denn fair, die Verteidiger der strengen Glaubenslehre mit den Pharisäern zu vergleichen? Oder könnte diese Anschuldigung nicht genau andersrum erfolgen? Vielleicht handelt es sich gerade bei denjenigen, die die traditionelle katholische Glaubenslehre über Bord geworfen und die „Traditionen“ der vergangenen Generation begrüßt haben, um die neuen Pharisäer unserer Zeit.

Um das entscheiden zu können, müssen wir zuallererst betrachten, warum Jesus während seines öffentlichen Lebens die Pharisäer so oft verurteilte. War es einfach nur, weil sie die Regeln und Traditionen befolgten? Nein. Im Grunde prangerte unser Herr die Pharisäer an, weil sie Barrieren gegenüber Gottes Gnade aufbauten, indem sie die Befolgung menschengemachter Traditionen verlangten, die die Menschen von der Gnade Gottes fernhielten. Das war ganz besonders unerhört, weil die Pharisäer religiöse Autorität über andere ausübten und dadurch in der Lage waren, die Menschen davon abzuhalten, sich Gott und seiner Gnade zu nähern. Jesus erklärt dies ganz deutlich in Matthäus 15:1-9:

Da kamen von Jerusalem Pharisäer und Schriftgelehrte zu Jesus und sagten: „Warum missachten deine Jünger die Überlieferung der Alten? Denn sie waschen sich nicht die Hände vor dem Essen.” Er entgegnete ihnen: „Warum missachtet denn ihr Gottes Gebot um eurer Überlieferung willen? Gott hat gesagt ‘Ehre Vater un Mutter’ und, ‘Wer Vater oder Mutter verflucht, soll mit dem Tod bestraft werden.’ Ihr aber lehrt, ‘Wer zu Vater oder Mutter sagt ' Was ich dir schulde, erkläre ich zur Opfergabe, der braucht seinen Vater oder seine Mutter nicht mehr zu ehren.’ Damit habt ihr Gottes Wort um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt. Ihr Heuchler! Der Prophet Jesaja hatte Recht, als er über euch sagte:

‘Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen,

sein Herz aber ist weit weg von mir;

es ist sinnlos, wie sie mich verehren,

was sie lehren, sind Satzungen von Menschen.’”

Das Problem sind nicht die Regeln bzw. Traditionen an sich. Schließlich hat Jesus selbst gesagt, „Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen [das Gesetz und die Propheten]” (Matthäus 5:17). Außerdem sprach er zu seinen Jüngern, „Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein; wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich.” (Matthäus 5:19). Und der Hl. Paulus schrieb an die Thessaloniker, „Seid also standhaft, Brüder, und haltet an den Überlieferungen fest, in denen wir euch unterwiesen haben, sei es mündlich, sei es durch einen Brief.” (2 Thessaloniker 2:15).

In unserer heutigen widersprüchlichen Welt ist es ja an der Tagesordnung, jeden, der für eine Tradition odr Regel eintritt als „pharisäisch“ zu verurteilen, doch darum ging es bei der Warnung Jesu sicherlich nicht. Er verurteilte stattdessen nur diejenigen, die Traditionen aufrechterhalten, die die Menschen davon abhalten, eine Beziehung zu Gott aufzubauen, d.h. diejenigen, die „das Wortes außer Kraft setzen.”

Wer sind also heute diejenigen, die den Menschen den Zugang zu Gottes Gnade verwehren, indem sie menschengemachte Traditionen aufrechterhalten? Wer lehrt die menschengemachten Vorschriften als Doktrin? Lassen Sie die folgenden Szenarien auf sich wirken und denken Sie darüber nach, ob Ihnen das eine oder andere bekannt vorkommt:

       Eine Pfarrgemeinde bietet das Sakrament der Beichte nur samstags eine halbe Stunde lang an, und das zu einer unpassenden Zeit, und ruft nicht zur Versöhnung auf. Die Ausrede lautet „es geht sowieso keiner mehr hin“ und „die Priester sind zu beschäftigt“.

       Anfragen, ob man nicht mehr traditionelle Kirchenlieder in der Messe singen könnte, werden mit der Antwort abgeschmettert, dass „die Lieder, die wir heute singen, die Lieblingslieder unserer Gemeindemitglieder sind.”

       Man befürwortet die Kommunion für Geschiedene und Wiederverheiratete, indem man argumentiert, dass eine Verweigerung nicht mit der großartigen Kirchentradition, jedermann „willkommen“ zu heißen, vereinbar wäre.”

       Sobald versucht wird, ein neues Ehevorbereitungsprogramm einzuführen, dass den Unterricht in grundlegender Kirchenlehre beinhaltet, wehren sich die ehrenamtlichen Helfer dagegen, indem sie argumentieren, dass das gegenwärtige Programm „dem entspricht, was sie schon immer gemacht haben.”

       Ein Priester, der einem gleichgeschlechtlichen Paar die Kommunion verweigert, wird ganz schnell entfernt und darüber informiert, dass seine Handlungsweise „einen Mangel an seelsorgerischem Einfühlungsvermögen“ zeigt und die Kirche als „wertend“ dastehen lässt.

       Ein Gemeindemitglied schlägt dem Pfarrer vor, von Haustür zu Haustür zu gehen, um mehr Leute in die Kirche zu bekommen, wird aber mit der Begründung abgewisen, dass „Katholiken so was nicht tun“.” Außerdem wird ihm gesagt, dass die „Missionierung“ nicht mit der Ökumene zu vereinbaren sei.

In jedem dieser Fälle werden die Menschen von der Wahrheit Christi und seiner Kirche weggeführt, weg von Heilung und Versöhnung, weg von einer beständigen Beziehung zu Christus – und die Gründe, die dafür angegeben werden, lauten immer nur, „so machen wir's halt heute.” Anders ausgedrückt: Das sind unsere „Traditionen“.” Die neuen Pharisäer von heute spielen die katholische Lehre herunter, minimieren die Bedeutung der Sakramente, machen sich lustig über die traditionelle Andacht der Katholiken, verspotten die katholische Morallehre und mindern die Einzigartigkeit der katholischen Kirche herab. Die im Lauf der letzten 40 Jahre eingeführten menschengemachten Traditionen haben sich im Alltag der durchschnittlichen katholischen Pfarrgemeinden verankert, obwohl – wie ich kürzlich geschrieben habe – es keinen Beweis dafür gibt, dass irgendeins dieser Programme oder Praktiken die Menschen dazu bringt, in die Kirche Christi zu gehen. Im Gegenteil: Es gibt überzeugende Beweise dafür, dass die Menschen dadurch von Christus und seiner Kirche abgehalten werden. Mit anderen Worten, „ haben sie Gottes Wort ihrer Überlieferungen willen außer Kraft gesetzt!”

Traurigerweise befinden sich häufig genau diese neuen Pharisäer heute in den Machtpositionen vieler katholischer Gemeinden. Doch – gemäß dem Beispiel unseres Herrn – müssen wir ihren Anstrengungen entgegentreten und uns ihnen widersetzen. Wir müssen weiterhin jede Sünde als „Sünde“ bezeichnen und die Menschen aufrufen, sie zu vermeiden – auch wenn sie mittlerweile in unserer Kultur allgemein akzeptiert wird -, weil wir wissen, dass solche Taten die menschliche Person und Seele zerstören können. In Verbindung mit einer neu belebten Betonung der Sünde, müssen wir gleichzeitig das Sakrament der Beichte betonen, damit alle Hilfesuchenden Vergebung erlangen und mit Gott versöhnt werden können. Außerdem müssen wir Wert auf eine ehrfürchtigere Messe legen, um Gott besser ehren zu können. In unserer Zeit ausschweifender sexueller Unmoral müssen wir weiterhin die katholische Lehre in Hinblick auf Sexualität und Ehe genau erklären und Ehepaare dazu bringen, auf diesem Gebiet sich vollständig nach der Kirchenlehre zu richten. Und wir müssen jeden Menschen dazu aufrufen, zum katholischen Glauben zu konvertieren, damit alle die reichhaltigen Gnaden empfangen können.

Wir müssen die Leute einladen – ja sogar bitten – , in den Sakramenten und in der Kirche zu Christus zurückzukehren, und jeden Glauben bzw. Praktiken, die sie von diesen Gnaden fernhalten, abzulehnen. Hinter all diesen Aktionen steckt letztendlich ein einziger Zweck: die Menschen zu einer tieferen Beziehung mit dem Wort Gottes, mit Jesus Christus zu führen. Wenn wir das zu unserer Mission machen, dann können wir an den Traditionen festhalten, die diese Beziehung vertiefen und diejenigen aufgeben, die menschengemacht sind und die Menschen von dieser rettenden Beziehung wegführen.

Die neuen Pharisäer fallen in diese fehlgeschlagenen menschengemachten Traditionen der vergangenen Generation zurück; wir wollen also diese vergänglichen Traditionen aufgeben und uns stattdessen an die wahren katholischen Traditionen halten, die sich über die Zeiten hinweg bewährt haben.

Originally published on March 5, 2015.

http://www.onepeterfive.com/the-new-pharisees-who-today-is-putting-up-obstac

les-to-evangelization/